Opium

Bis heute war mein persönlich bislang schlechtester Tag in 2024 der, an dem wir am Millerntor gegen Elversberg den Kürzeren zogen, der Verdacht aufkam, dass wir abermals auf der Zielgeraden den Aufstieg vermasseln könnten.

Am heutigen Donnerstag fiel ich jedoch in ein tieferes Loch.

Die miesesten Rückschläge sind die, mit denen du im Traum nicht gerechnet hattest. Die, die dir so abwegig erscheinen, dass sie in Planungen ganz einfach keine Rolle spielen. Wenn du denkst, es handele sich um ein "wir gegen die", um klar verteilte Rollen... du die Ofenklappe öffnest und den Pustekuchen rausholst.

Ich habe in den letzten beiden Jahren nach Corona viel Zeit, Geld und Empathie in den Nachwuchs gesteckt. Statt weiter an der aktuellen Situation zu mäkeln, lieber kommenden Generationen Dinge mitgeben, die ja meistens Handgriffe aus dem "Ultras-Einmaleins" sind. Kommt ja auch viel Freude bei rum, weshalb ich immer in den höchsten Tönen von den Kids geschwärmt habe (und auch immer noch tue, dass wir uns nicht falsch verstehen).

Deprimierende Augenblicke sind immer Teil jeder Variante von Pädagogik. Letztens war bereits solch ein Moment, der mich maßlos runterzog. Stehe ich in der Fanladenküche und gucke durch die Durchreiche auf die beiden Sofas. Sitzen da sechs Jugendliche, sechs Freunde, die die Welt auf den Kopf stellen könnten... und glotzen ALLE ausnahmslos auf ihr verkacktes Smartphone. Und nicht etwa mit einem Auge, sondern in geradezu manischer Manier, dass der Eindruck entsteht, sie befänden sich gerade noch zu maximal zehn Prozent in dem Raum, in dem sie sitzen.

Ja ja, der Alte wieder. Regt sich über die Gegenwart auf, will wie so oft in die 80er flüchten. Aber mal im Ernst: Diese furchtbare omnipräsente Reizüberflutung ist Gift. Viel schlimmer als Nikotin oder Industriezucker. Unterm Strich berauben sie sich der Kommunikation, denn all der blinkende Quatsch, die ständigen Chats, Voice-Mails und der ganze Scheiß berauben dich der Menschlichkeit. Emojis sind keine Emotionen. Eine Mimik, ein Blick aus kurzer Distanz in die Augen, eine Geste. Das sind Werkzeuge der Kommunikation - jahrtausendelang bewährt, verfeinert und perfektioniert, doch mittlerweile bedroht wie die Kegelrobbe oder das Breitmaulnashorn. Und wer nun sagt, bei "Video-Sitzungen" gäbe es doch Augenkontakt und Körpersprache, begreift nicht wirklich, was ich sagen will und fühle.

Wer zuhause Kinder und/oder Heranwachsende unterm Dach hat, wird sich das vermutlich selbst öfters gedacht haben, wenn nicht selbst längst süchtig vom eigenen Gebetsbrett. Doch zurück in die Fanladenküche:

Ich schäme mich nicht die Bohne zuzugeben, daraufhin den Kühlschrank geöffnet zu haben, damit verborgen hinter dessen Tür niemand mitbekommt, dass ich gerade wortwörtlich eine Träne verdrücke, weil ich diesen Moment soooo unfassbar traurig fand.

Wenn du dann noch am Abend liest, dass einer der KI-Pioniere davon ausgeht, dass eben jene in gut zehn Jahren "die Macht" übernehmen wird, sofern nicht umgehend radikale Eingriffe erfolgen, setzt der Brechreiz ein. Diese Eingriffe wird es selbstredend nicht geben, weil kurzfristige Profite immer über Rationalität und Vernunft obsiegen werden. Genießt die kommenden Jahre noch so gut es geht, bevor das Digitale das Analoge auszumerzen beginnen wird. Der Mensch ist die Schwachstelle, der Fehler im System. Wenn das Wettern gegen letztlich menschenverachtende Fortschrittshörigkeit bereits in die Kategorie "Verschwörungstheorie" fallen sollte, täte mir das zwar leid, wäre mir aber auch egal, weil ich davon halt zutiefst überzeugt bin.

So überzeugt wie ich es war, dass hinter ganz vielen Dingen bereits vor Dekaden ein ganz großer Haken gemacht wurde in diesem Verein, in dieser Fanszene. Plötzlich müssen wir uns beim FC St. Pauli wieder für Haltungen rechtfertigen, die ich für geklärt hielt.

Obwohl im Laden relativ wenig los war die letzten Tage, häuften sich tatsächlich Beschwerden über die Bad Religion-Sticker. Zunächst noch geduldig wie immer, dann aber auch gehörig gereizt und sichtlich mürrisch gewesen. Richtig schlimm waren die jungen Menschen, offensichtlich vom Elternhaus (oder doch eher vom Internet) klerikal indoktriniert.

Irgendwann willst du denen nur noch raten, vielleicht doch besser die eigenen Zelte bei der Fußballabteilung der Jungen Union oder so aufzuschlagen...

Eines möchte ich allen Menschen, die rund um diesen Verein aktiv und auch gesellschaftlich engagiert sind, sagen:

Ich mag (die allermeisten von) Euch wirklich sehr gern. Wunderbare Leute, unterm Strich immer viel angenehmer als der Durchschnitt "da draußen". Ihr supportet Dinge, die ich mehrheitlich sehr gut finde und als unterstützenswert erachte. Aber eines habt Ihr nicht drauf: Strategische Taktik. Unsere Welt liegt all zu sehr zwischen Ottensen und Neustadt. Wir müssen raus aus den Blasen und Bläschen, schonungslose, ehrliche Analyse betreiben und schleunigst zusehen, dass uns nicht vieles entgleitet, das wir fest in den Händen wähnten. Für Punk rechtfertigen? Für Areligiösität? Beim FC St. Pauli? Fuck off!

Das Lustige ist, dass ich Religion als Abitur-Leistungsfach hatte damals. Ich kenne mich also relativ gut aus auf dem Gebiet, um nicht von gar schlafwandlerischer Sicherheit zu sprechen  ;)

Zum Abschluss noch eine Bitte: Keine Mails zu dem Thema schreiben, lese ich eh nicht. Wer sich beschweren will, kann gern morgen in den Laden kommen. Aber Obacht: Meine Zündschnur ist kurz wie lange nicht mehr und meine Schlaghand momentan ganz ordentlich im Training. Falls irgendein Vogel meine neue Helferin, die den Kleber-Verkauf vorm Spiel morgen zum ersten Mal machen wird, dumm anquatschen sollte, im Glauben, damit gottgerecht zu handeln, wird meine Rache schier biblischen Ausmaßes sein... ich konsumiere ja schließlich kein Opium.

In diesem Sinne: